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er, der Leser, vielleicht auch längst gedacht oder erinnert habe.
»Es ist ein bedeutungsloser und zufälliger Umstand, daß du der
Leser dieser Übungen bist und ich ihr Verfasser«, schreibt er in
einer Vorbemerkung zu einem Gedichtband. Schließlich
machte er sogar einen anderen für seine Aufzeichnungen ver-
antwortlich.
* Wir werden jetzt nicht mehr von Borges sprechen, da der Autor, von dem bisher
die Rede war, in einer Reihe von Spiegelungen, Täuschungen und anderen
Namen aufgegangen ist; kün8àig wird es nur noch : er9 von ihm heißen.
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Er begann seine Autobiographie zu schreiben. Zehn Jahre
lang arbeitete er daran. Die Zweifel mehrten sich in dieser Zeit.
Je weiter er in seinem Werk vorankam (je älter er wurde und
sein Augenlicht sich verdunkelte), desto ungestümer überfielen
ihn die Anfechtungen, Als das Buch schließlich vollendet war,
war er gänzlich erblindet; vielleicht kann man auch sagen: als
er die Welt nicht mehr sah, war auch seine Autobiographie
abgeschlossen. Nach längerer Überlegung übergab er sie den
Flammen, ohne daß jemand darin gelesen hatte. Er hatte ge-
spürt, daß in diesem Buch seine Rolle als Schri8àsteller fixiert
war. Nun mußte er das Manuskript nur vernichten und er war
frei.
Aus dem Feuer wurden nur zwei, durch kunstvolle Präpara-
tionen wieder lesbar gemachte Seiten gerettet. Wir lesen darin,
daß die Auflösung seines literarischen Ichs so weit fortgeschrit-
ten war, daß er sich selbst weniger in seinen eigenen Büchern als
in den Büchern der andern wiedererkannt habe  oder »einfach
im Gezupf der Gitarre«. Er schließt damit, daß es noch einen
anderen geben müsse, dem geschehe nun alles. Und fragt: »Ich
weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.«
Das ist das letzte, was man von ihm lesen konnte. Außer
einigen bemüht-provokativen Sätzen in Interviews, die beflis-
sene Journalisten aus ihm herausgelockt haben wollen. Viel-
leicht war es ein anderer, der aus ihm sprach, Domecq oder
Alediv? Wirklichkeit ist, daß er an jenem Tage, als der Diktator
Peron zum zweiten Mal die Macht in seinem Lande übernahm,
seinen Arbeitsplatz in der Biblioteca Nacional räumte und auf
dem leeren Schreibtisch ein einziges Buch hinterließ: Borges
und Ich.
Später konnte man ihn noch manchmal sehen, wie er sich mit
einem Taxi vor das Gebäude in der Calle México fahren ließ,
wie er, auf einen Stock gestützt, aber doch ziemlich sicher,
durch die Eingangshalle schritt, die Freitreppe hinauf und
durch manche Korridore bis in den Hauptsaal der Biblioteca,
während die Angestellten sich in diesem Augenblick in ihren
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Zimmern oder irgendwelchen Kammern versteckten, so daß
der alte Dichter das Gefühl hatte, er sei ganz allein in der
Bibliothek. Nur von weit und verstohlen beobachteten sie ihn
dann, wie er mit den Händen die vertrauten Pergament- und
Lederrücken der Bücher an den Wänden betastete, so als wolle
er mit dem Hautnetz seiner Erinnerung darin lesen: der Blinde
in der Bibliothek.
Vielleicht hat er das Buch, das wir gerade in den Händen
halten, verfaßt, wieder unter einem anderen Namen, der uns
noch nicht bekannt geworden ist? Vielleicht hat er alle Bücher,
die wir je lesen werden, geschrieben? Was wissen wir von ihm,
außer, daß er in Buenos Aires geboren und in Genf erzogen
wurde; daß er Direktor einer Bibliothek war und das Aleph
gesehen hat; daß er sich für Emma Zunz die wohl teuflischste
Obszönität der Weltliteratur ausgedacht hat und die vier älte-
sten Bibeldrucke seinen Besitz nennen kann; daß er niemals
geheiratet hat und im Alter von 79 Jahren der Schwedischen
Akademie androhte, nicht eher zu sterben, als bis sie ihm ihr
höchstes Laureat verliehen hat?
Wir wissen also gar nichts. Alles, was er geschrieben hat,
gehört uns. Denn er ist das Werkzeug der Erinnerung von uns
allen. Wenn wir nicht mehr sind, ist auch er nicht mehr. So-
lange wir sind, wird auch er sein. Wer ist er also? Er ist niemand,
um alle sein zu können. Er ist nicht, aber er ist alles. Vielleicht
existiert er überhaupt nicht? Vielleicht ist Borges nur eine Idee
von Borges?
Horst Bienek
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Inhaltsverzeichnis
Das Sandbuch
Vorbemerkung 7
Der Andere 9
Ulrike 18
Der Kongreß 22
{àere Are More {àings 42
Die Sekte der Dreißig 50
Die Nacht der Gaben 54
Spiegel und Maske 59
Undr 64 [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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